Hashtag bitte nicht vergessen

Wisst ihr, welcher Tag heute ist? Also nicht der Wochentag oder welches Datum. Sondern welcher Tag. Es gibt ja für jedes Thema, jeden Furz, einen speziellen Tag. Allein im April gibt’s den Internationaler Kissenschlacht-Tag, Welt-Parkinson-Tag oder den National-High-Five-Tag in den USA. Das ist für Social-Media-Menschen super. Keine Idee für eigenen Content, für „richtige“ Inhalte? Kein Problem. Einfach eine komplett austauschbare Grafik basteln, auf der der Tag zelebriert und mit schwammig-mitfühlenden Worten darauf verwiesen und erklärt wird, warum der Tag heute so wichtig ist. Denn natürlich gibt’s neben dem Tag der Rosine, dem Rettet-die-Frösche-Tag oder dem Internationalen Tag des Nasebohrens (ich wünschte, ich würde mir die alle ausdenken …), immer wieder ernsthafte „Feiertage“.

An denen auf Krankheiten, Behinderungen, gesellschaftliche Probleme hingewiesen wird. Awareness-Tage halt. Das klingt doch super. Sehr seriös. Das kommt gut an in den entsprechenden Bubbles, jetzt nur nicht die passenden Hashtags vergessen, das wäre sonst blöd, wenn’s ja keiner mitkriegt und keiner liket und retweetet und teilt und bla. Denn darum geht es ja. Darin wird Awareness gemessen. Nicht in tatsächlicher Auseinandersetzung mit einem Thema. Sondern in Likes & Co.

Lässt sich auch in der nächsten Social-Media-Quartals Auswertung bei der Geschäftsführung viel eindeutiger darstellen – und so entscheiden, ob es sich lohnt [sic!], nächstes Jahr nochmal so einen Post zu machen.

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Ich hab jetzt gar keine Lust auf eine Debatte, was die guten Seiten solcher Tage sind, was sie bringen und warum es keine Alternative ist, sie zu ignorieren. Heute ist Sonntag der 2. April und damit Autismus-Awareness-Tag oder Welt-Autismustag. Und ich habe das Netz heute sehr gemieden, weil ich wirklich keine Lust hatte, irgendwo von irgendeiner Firma, Partei, Organisation, Person einen generischen Post dazu zu sehen – vielleicht auch noch mit einem Puzzleteil in der Grafik.

Jemand anders hat aber heute ohnehin schon sehr gut zusammengefasst, warum dieser Tag für Autist*innen eben nicht einfach ein Grund für eine wilde Pride-Party im Netz ist: Sahid. Kennt ihr nicht? Solltet ihr, wenn ihr euch mit dem Thema Neurodivergenz auseinandersetzen wollt.

Er schrieb zum heutigen Tag folgendes in seinen Instagram-Stories und ich darf es freundlicherweise hier veröffentlichen:

»Alles Gute zum Welt-Autismustag!

Kleine Erinnerung … Die meisten von uns (Autist*innen), besonders welche mit sehr später Diagnose, sind ziemlich stark traumatisiert und mentally ill. Die meisten Therapien und Medikamente sind nicht für uns gemacht, nicht genug an uns erforscht und dazu kaum richtig zugänglich.

Wir leben damit, dass wir in dieser Welt funktionieren müssen und uns kaum jemand unsere Behinderung glaubt. Weil alle nur die Klischees kennen.

Viele, viele Fachpersonen kennen sich viel zu wenig mit Autismus aus und verwehren uns die passende Diagnose und vor allem Hilfe, nur weil wir nicht in eine (alte und falsche) Schablone passen. Nicht Betroffene bilden sich ein, über uns bestimmen und reden zu können, dass ihre Meinung mehr Gewicht hätte als unsere.

Wir sind jeden Tag Ableismus ausgesetzt. Und egal wie viel wir hier aufklären, es geht viel zu langsam voran.

Meine Medikamente wirken ja nicht mehr und ich glaube nicht, dass ich in nächster Zeit die Energie haben werde neue zu testen. Morgen ist mein Termin zum psychologischen Gutachten, wo ich mich wieder „nackig“ machen und um Hilfe betteln darf, damit ich arbeiten gehen und mich etwas unabhängig machen kann.

Und die kommende Woche ist der erste Autismus-Diagnostik-Termin für den Kleinen, wo ich mir wahrscheinlich anhören darf, dass ein so glückliches Kind, welches viel lacht, gar nicht autistisch sein kann! Aber ja … Welt-Autismustag!

Ich habe es einfach so satt, in dieser Gesellschaft zu leben und jeden Tag diskriminiert zu werden. Und noch viel schlimmer: meine Kinder ganz genau so.

Weltautismustag am Arsch – so lange Mädchen/Frauen, BIPOC, queers usw. keine Diagnosen bekommen.

So lange nicht mit uns, sondern über uns entschieden wird.

So lange es weiter diese gefährlichen und falschen Klischees und Stereotype über uns gibt.

Ich habe es so satt, dass so viele Menschen glauben, wir waren gefühllose, egoistische Roboter. Dass sich so viele Menschen über uns lustig machen (gerne cringe culture googlen). Wir sind der Trope, über den man bei Filmen und Serien lacht (auch wenn nicht offensichtlich Autismus dazu steht).

Ich bin es so satt, nicht ernst genommen zu werden und dass man meine Kompetenzen in Frage stellt. Dass ich mir quasi keinen Fehler erlauben darf – besonders nicht als Elternteil.

Ich bin es so satt, mich falsch zu fühlen und mich zu verstellen. Zu sehen, dass meine neurodivergenten Freund*innen und Familie genau das gleiche tun. So sehr, dass man nicht mal mehr untereinander man selbst sein kann, weil es so tief in einem drin sitzt.

Ich möchte nicht von einem System abhängig sein, was mich als minderwertig betrachtet.

https://www.instagram.com/autiebiographical/

Ich habe keinen ‚milden“ Autismus. Ich reisse mir seit meiner frühen Kindheit den A*sch auf, um möglichst angepasst und unauffällig zu sein. Meine ganze Energie geht genau da rein und es macht mich krank. Aber wenn ich es nicht mache, werde ich wieder mehr ausgegrenzt und diskriminiert. Und wenn ich es mache, nimmt man mich mit meinen Schwierigkeiten nicht ernst.

Als behinderte Person kann man in einem ableistischen System nicht gewinnen. Viele von uns überleben es nicht einmal. (Guckt euch besser nicht die Suizidrate bei Autismus an. Und da sind nicht mal die eingerechnet, die nie eine Diagnose bekommen haben. Sonst wäre sie sicher noch höher.)

Ja, ich weiß. Alles sehr traurig. Aber die Gesellschaft ist eben noch nicht so weit in Sachen Barrierefreiheit usw., wie uns Social Media glauben lässt. Wir sind hier in einer Bubble.

Heute ist Welt-Autismus-Tag. Ich werde meine beiden autistischen Kinder in den Arm nehmen, auch wenn eines davon vielleicht keine offizielle Diagnose bekommen wird, weil es viel lacht, auf Menschen zugeht und glücklich ist.

Und vor allem werde ich mich selbst ganz fest in den Arm nehmen und um meine Kindheit und Jugend trauern. Um all die Jahre voller Selbsthass und sich falsch fühlen, die nicht hätten sein müssen.«

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