Ich verstehe es ja. Wirklich. Die letzten Jahre, gefühlt Jahrzehnte, wurden wir, unsere Gehirne, unsere Erwartungshaltungen, unsere Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten auf Videos konditioniert, die möglichst kurz sind. Wir können also quasi gar nicht mehr anders.
Ich denke, angefangen hat das mit Snapchat? 15 Sekunden, Kamera läuft, GO, REDE UM DEIN LEBEN! Instagram hat’s dann geklaut, so wie es inzwischen ja nicht nur Ideen klaut, sondern auch unsere Gesichter und Stimmen – und ich will wirklich nicht vom Thema abkommen, aber haben Sie bei Meta schon überall der Nutzung Ihrer Sachen für deren KI widersprochen? Und ich meine nicht, in einem Posting zu schreiben „HIERMIT WIDERSPRECHE ICH …“ Das hat in etwa die selbe juristische Wirksamkeit wie ein Geschäftsführer, der auf dem Firmenparkplatz schreit, er erkläre hiermit die Insolvenz. Falls Sie keinen Plan haben, wovon ich rede und einen Account bei Facebook, Instagram & Co. haben: Hier bitte mal kurz selbst informieren.)
Also Instagram hat’s geklaut. Dort wurden die Stories dann zwar doch wieder ein bisschen länger, dann dieses hin und her mit Videos und Reels und deren Länge, dann hat YouTube Shorts eingeführt und irgendwann gemerkt, wir müssen auch ein bisschen länger werden, aber eben nicht zu lange, weil das tut den Menschen nicht gut. Sich so lange zu konzentrieren, das kriegen die einfach nicht mehr hin.
Außerdem: ein maximal zwei-minütiges Video über ein wichtiges, politisches Thema zu machen und es dennoch so zu gestalten, dass die User:innen nicht binnen der ersten 5 Sekunden wegwischen – das kriegen die meisten Content-Creators (private wie öffentlich-rechtliche) vielleicht noch irgendwie hin, aber darüber hinaus? Puh. Wird schwierig.
Also bitte nicht so lang. Nicht zu lang. Wobei keiner heutzutage mehr weiß, was zu lang ist – selbst die Algorithmen nicht, denn seien wir ehrlich, die Algorithmen wissen in der Regel immer noch einen Dreck.
Dementsprechend tummeln sich inzwischen wahnsinnig viele kurze historische, politische Beiträge da draußen, die sicherlich super für all die Linas und Julians sind, die mit der Aufmerksamkeitsspanne einer Libelle, die gegen eine Fenster geflogen ist, durchs Leben swipen – und die in ihrem Leben noch nie vom Gang nach Canossa oder der Achse des Bösen gehört haben, nicht den Unterschied zwischen Reformation und Revolution wissen oder glauben, Antlantis sei eine Stadt in Georgia, wobei man vermutlich unfassbar froh sein darf, wenn Lina und Julian wissen, dass Georgia ein Staat ist, wir fragen sie besser nicht, auf welchem Kontinent es liegt oder ähnlich herausforderndes.
Der allgemeine Erkenntnisgewinn über den Gang nach Canossa wird nach einem 87-sekündigem Reel vermutlich eher mau sein, aber hey, zumindest wissen sie nun, dass es den Gang nach Canossa überhaupt gab, und offensichtlich leben wir in einer Zeit, in der selbst das als eine Art Fortschritt gewertet wird.
Wer aber ernsthaft denkt, dass das ein zufriedenstellendes Ergebnis sei, sodass man sich anschließend auf die eigene Schulter klopfen kann und stolz, wenn jemand fragt, was man beruflich so macht, antwortet: „Ich mache Videos fürs Internet und dank mir wissen nun Emily, Jerome und Karolin, dass Napoleon mit 1,69 m gar nicht klein war, sondern Durchschnitt – mehr hat in 1 Post leider nicht reingepasst!“ hat den Schuss nicht gehört.
Gestern haben der Lütte und ich eine Doku über Goebbels gesehen. Sie war inhaltlich nicht besonders neu – da kann man im Jahr 2025 vermutlich niemandem einen Vorwurf machen. Es ist bei dem Thema generell kaum von bahnbrechenden Neuigkeiten auszugehen. Aber vor einiger Zeit hat man geradezu tollwütig damit begonnen, Film- und Fotomaterial aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachzukolorieren und – oh boy, es ändert einfach alles, wenn man sieht, dass der Kragen von Magda Goebbels auf diesem Foto rosa war. Rosa! Hätte sie nie für einen Typ gehalten, der rosa mag. Ansonsten waren dann doch überraschend viele Brauntöne zu sehen – vielleicht hätte es der Stimmung im Führerbunker geholfen, wenn man ein bisschen weg von diesen ganzenn Durchfalltönen gegangen wäre, aber nun ja, jeder wie er mag.
Auch in der Kommentarspalte lobte man die Doku. Einer jedoch lobte nicht nur, sondern wünschte sich auch mal eine Dokumentation über das Ende des Osmanische Reich und Kemal Atatürk zu sehen. Hätten sie bereits, schrieb irgendein studentischer Mitarbeiter bei ZDF und verlinkte ein Video. Der Lütte und ich waren geradezu aus dem Häuschen: 20. Jahrhundert ist unser Ding, das Ende des Osmanischen Reiches und die Folgen der Auflösung nach dem Ersten Weltkrieg hat verschissene Folgen bis heute.
Was wir finden ist eine gut 15-minütige Doku.
15 Minuten.
Über das Ende eines Reiches, dass über 600 Jahre bestanden hatte.
Der Moderator, der History-Posterboy des ZDF, galoppiert in einem Affenzahn durch das Video – im Schulunterricht würde man das Frontalunterricht nennen, ab und zu werden ein paar Fotos eingeblendet (nicht mal in Farbe!) oder Schlagwörter – die Overheadprojektorversion in Social-Media-Videos. Er spricht so schnell, dass ich nicht mal Notizen machen könnte, ohne dauernd auf Stop zu drücken.
15 Minuten, in denen unfassbar viel gesagt und am Ende noch mehr weggelassen wird. Lina und Julian, durch ihren exzessiven Konsum von 30-Sekunden-Content am Rande ihrer kognitiven Fähigkeiten, können das alles erst recht nicht verarbeiten, aber hey, sie wissen nun dass es mal ein Osmanisches Reich gab. Und einen Kemal Atatürk.
Klar kann man sich über jeden Wissensgewinn freuen. Klar kann man sagen: Besser als gar nichts. Es ist ein Einstieg.
Aber es ist nicht nur ein Einstieg. Es ist die fucking Norm.
Ausführliche Dokumentationen oder Reportagen, fundiert recherchiert, ggf. mit Zeitzeugen oder Originalaufnahmen, eingeordnet von Historikern, Soziologen, Politikwissenschaftlern oder generell Menschen, die einfach Ahnung haben – und ja, damit meine ich auch Moderatoren, die nicht einfach nur Fakten von einem Teleprompter runterrattern, als bekämen sie eine Mainzelmännchenplüschfigur als Belohnung, wenn sie möglichst selten Luft holen.
Aber diese Beiträge zu drehen kostet Zeit. Und Geld. Und wir motzen ja schon rum, wenn das Wort Rundfunkgebühr irgendwo zwei Häuserblöcke weiter nur geflüstert wird. Weil „wir“ den Tatort aus Hamburg doof finden oder nicht mehr Heute Journal schauen wollen, seit Claus Kleber aufgehört hat.
Wissen zu vermitteln, kostet Zeit und Geld. Und wir haben sie nicht. Wir nehmen sie uns nicht. Das sehen wir an Dokumentationen. Das sehen wir am deutschen Schulsystem. Das sehen wir an der Art, wie Regierungen und Politiker:innen sich die Zeit nehmen Dinge (sic!) zu erklären – oder eben an der Abwesenheit der Kommunikation. (Looking at you, Olaf.)
Gute Videobeiträge sind rar. Menschen, die gute Videobeiträge machen (wollen), sind rarer. Menschen, die gute Videpbeiträge produzieren (wollen), sind am raresten.
Und wie gesagt, natürlich können wir einerseits froh sein über jedes Fitzelchen an Information und Wissen, das wir in den heutigen Zeiten an den Mann und die Frau bringen. Aber wenn ich sehe, worüber wir uns hier freuen, wie tief die Latte inzwischen hängt, was alles nicht gewusst wird, wie groß die beschissene Diskrepanz zwischen dem Vermittelten und dem nicht-Vermittelten ist, dann möchte ich einfach nur gehen. Weg von allem.
Natürlich ist eine 15-minütige, nicht perfekte Doku über das Ende des Osmanischen Reiches nicht schuld am Untergang der Menschheit. Sie ist an gar nichts schuld. Sie ist nur ein weiteres, klitzekleines Symptom.
So wie der frontal-Beitrag über Björn Höcke, in dem die SA als ‚Schlägertrupps der Nazis‘ bezeichnet wird und man so den Eindruck bekommt, die SA wäre etwa so wie ein hooliganartiger, prügelfreudiger Dackel-Club aus Köln-Porz einzuordnen – und nicht wie eine paramilitärische Kampforganisation mit weit mehr als verschissenen 3 Millionen Mitgliedern. Kontext is king. Aber für Kontext ist keine Zeit.
Wir nehmen uns keine Zeit. Zu lernen. Zu verstehen. Einzugestehen, wie viel man nicht weiß. Anzuerkennen, dass man vielleicht nicht genug Informationen hat – und stattdessen lieber bräsig seine nur mäßig fundierte Meinung vor sich herträgt wie ein selbstgebastelter Pokal in der Kita-Gruppe; um dann besagte Meinung in einen ähnlich fundierten Post auf Twitter zu veröffentlichen oder direkt auf den Wahlzettel zu stülpen.
Wir nehmen uns keine Zeit, bewusst zu machen, wie verdammt komplex diese Welt, die Politik, die Menschen sind. Wie verdammt komplex wir selber sind. Wie verdammt wir nicht die Krone der Schöpfung sind, sondern eher eine Art Sozialexperiment und ich wette, diejenigen, die das Experiment gerade durchführen, sind spätestens seit dem 20. Jahrhundert einfach völlig aus dem Häuschen – weil diese Shitshow und das Ausmaß an Selbstzerstörung konnte nun wirklich niemand erahnen! Ich würde wirklich wahnsinnig gerne die Publikation davon lesen, aber werde tot sein, wenn sie rauskommt. So wie wir alle. So wie dieser Planet und vermutlich jede aktuell noch lebende Spezies. Vielleicht überleben ein paar Kakerlaken, eklig aussehende Tiefseefische und Schattenwölfe oder welchen Scheiss wir meinen als nächstes klonen (sic!) zu müssen.
Wir sind doomed. Und wenn ich einen Zeitpunkt nennen müsste, an dem ich vermuten könnte, wann das genau angefangen hat, würde ich einfach behaupten: mit 15-Sekunden-langen Videos auf Snapchat. Belegen kann ich das nicht, aber sobald ich ein 60-sekündiges Video hierzu finde, reiche ich das gerne nach.
Großartig, vielen Dank dafür!