Ich

Das bin ich. Ganz ohne Beautyfilter, Make-Up und genügend Schlaf.

Ich bin jetzt Vierzig.

Ich habe Hemmungen das zu sagen und zugleich finde ich es albern, dass ich diese Hemmungen habe.

Ich schneide mir alle ein bis zwei Jahre selbst einen Pony.

Ich bereue es jedes Mal.

Ich mag meinen Körper nicht sonderlich und finde mich zu fett.

Ich mochte meinen Körper schon nicht, als ich eindeutig gar nicht fett war und versuche mich häufiger zu hinterfragen, ob das tatsächlich ich selbst bin, die etwas schön oder hässlich findet.

Ich schaue zu viel fern und hänge zu viel am Handy.

Ich esse zu ungesund, hasse kochen und mag leere Kohlehydrate.

Ich nehme aber Vitamine, weil ich denke, dass ich so meinen Körper austricksen kann.

Ich mag meine Hunde lieber als die meisten Menschen.

Ich habe einen Sohn, für den ich verantwortlich bin, während ich mit der Verantwortung für mich selbst schon oft überfordert bin.

Ich bin neurodivergent.

Ich bin lustig.

Ich bin depressiv.

Ich wurde als Kind misshandelt und missbraucht.

Ich bin als Schülerin komplett durchs System gerutscht und es ist vermutlich purer Zufall, dass ich nie Drogen genommen habe.

Ich finde, der Joint in Israel zählt nicht.

Ich bin sitzengeblieben.

Ich habe meinen Magisterabschluss mit 1,6 bestanden.

Ich bin unfassbar stolz auf diesen Abschluss nach all dem Scheiss, den ich in der Schule durchgemacht habe.

Ich habe versucht, mich umzubringen.

Ich habe Angst zu sterben.

Ich habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und eine große Klappe, was sich als Kombination häufig als nicht so gut für mich erwiesen hat.

Ich bin stoisch.

Ich bin emotional.

Ich fluche zu viel.

Ich bin zu laut.

Ich mache Witze über Dinge, die mich belasten, weil ich gelernt habe, dass Menschen häufig nicht mit belastenden Dingen umgehen können bzw. mit mir.

Ich habe fast immer einen Kopfhörer im Ohr.

Ich mag klassische Musik.

Ich kenne kein einziges Lied von Harry Styles.

Ich hab zu oft Migräne.

Ich mache zu selten Yoga.

Ich meditiere zu selten.

Ich mache viele Dinge, die mir eindeutig gut täten, zu selten.

Ich wäre gerne jemand anders.

Ich wäre gerne woanders.

Das bin ich.

All das. Und noch mehr.

Keine Lust mehr.

Kann etwas, was öffentlich ist, zugleich privat sein? Ist man selbst schuld, wenn man sich im Netz äußert und/oder outet – und sei es nur bei scheinbar banalen Dingen – und es einem dann um die Ohren fliegt?

Früher musste man Kinder-Pyjamas im KZ-Look verkaufen, um einen öffentlichkeitswirksamen Shitstorm abzubekommen. Heute kriegt man (alias Ariana Barborie) den digitalen Arsch versohlt, wenn man es wagt, für den neu “angeschafften” Hund nicht nach Rumänien zu brettern, um dort einen vor Verwahrlosung, Hunger und Tod zu retten, sondern einen hier in Deutschland von einer Familie holt, wo es ungeplanten Hundenachwuchs gab. Ekelhaft.

Man postet ein belegtes Brötchen mit Salami auf Instagram und läuft plötzlich Gefahr, dass Peta einem aufs Dach steigt. Man liebt grelles Make-Up, rasiert sich aber nicht die Beine und findet prompt Kommentare von der Inkonsequenz-Aufschrei-Polizei. Man twittert, dass man den Elternabend nur besoffen erträgt und darf sich die nächsten Tage mit der Mutter von Xaver auf WhatsApp auseinandersetzen, die einem abwechselnd Menschenhass und Alkoholismus vorwirft.

Das Netz. Ein Ort voller Möglichkeiten. Voller Potential. Und voller Schmocks.

Irgendwann vor zehn Jahren haben auch die letzten Uwes, Rabeas und Fraukes dieser Welt den Weg ins Internet gefunden. Die Zeit, in der man misstrauisch und irritiert gefragt wurde, was man da auf Twitter denn so schreibt und vor allem, wenn das interessiert, ist längst vorbei. Du fotografierst deinen Cappuccino so lange und oft, bis das Foto perfekt und das Kaffeegetränk kalt ist? Heute normal. Du rennst TikTok-Stories aufnehmend durch die gut gefüllte Innenstadt? Kümmert niemanden mehr.

Auf der einen Seite schön. Im Internet ist ja Platz für alle. Nur leider gibt’s keine Einlasskontrolle. Selbst bei der usseligsten Diskothek im tiefsten Brandenburg sorgen Zlatko und Timo an der Tür dafür, dass nur die reinkommen, die lediglich halbwegs besoffen sind und nicht nur rein wollen, um drinnen richtig Randale zu machen und komplett Fremden aufs Maul zu hauen.

Fürs Internet gibt’s keinen Zlatko.

Nicht verwunderlich. Schließlich ist das Internet kein geschlossener Raum, sondern öffentlich. Man wird ja nicht müde, genau das zu betonen.

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