Ich finde Menschen, die an einem zweiten Donnerstag eines Monats um 16:37 Uhr – nach sorgfältigem Innehalten, ausführlicher Selbstreflektion und Analyse – konkrete Änderungen in ihrem Leben vornehmen, großartig.
Also Menschen, die nicht bis zum nächsten Morgen oder nächsten Montag oder den Ersten des nächsten Monats warten müssen, sondern es direkt machen. Because why not?! Geradezu übermenschlich.
Vermutlich werden solche Menschen nur noch von jenen übertroffen, die gar nicht erst sorgfältig innehalten und ausführlich vor sich her reflektieren müssen. Die einfach machen. Und beim Machen direkt weiter Änderungen vornehmen: Donnerstag Abend um 22:05 Uhr oder nächsten Mittwoch um 9:49 Uhr. Einfach so. Titanen!
Ich selbst bin weder geradezu übermenschlich noch ein Titan. Sollten irgendwann die Demokratie, Gesellschaft und Zivilisiation zusammenbrechen – und wir alle ahnen es: dieser Tag ist nicht mehr so theoretisch wie er vor einigen Jahrzehnten vielleicht noch schien – und Kalender und Uhren ihren bisherigen Sinn einbüßten, ich wäre ein Wrack.
Nun, streng genommen wären wir alle wohl dann ziemliche Wracks. Das gehört zum Untergang der Zivilisation quasi mit dazu. Aber wenn ich keine Tabellen und Listen mehr führen könnte, wenn ich nicht mehr planen könnte, ab wann um wie viel Uhr ich welche Routine mit welchem geänderten Ablauf implementiere, wenn es eigentlich keine Rolle mehr spielt, ob es Freitag oder Montag ist, ob Neujahr oder der 12. August, ob Mitternacht oder 1:27 Uhr … ich wäre nochmal eine ganz andere Art von Wrack.
Zugegeben, das klingt ein bisschen zwanghaft – und ich füge das bisschen eigentlich nur an, damit ich, sollte ich von einer emotional fremden Person, die hier eklig mitliest, einmal darauf angesprochen werden, sagen kann „haha, sind wir nicht alle ein bisschen zwanghaft, nicht ICD-11-zwanghaft, sondern das andere hehe, Sie wissen schon, zwinkerzwonker“.
Und vielleicht kann zwanghaft ja auch ein bisschen gut sein?
Je länger ich darüber nachdenke: Irgendwie ticken Menschen, die an einem Donnerstag um 16:37 Uhr beschließen, ab sofort zum Beispiel vegan zu leben, jeden Tag (inklusive des besagten Donnerstags) 10.000 Schritte zu flanieren oder täglich in den Gottesdienst zu gehen (Messe ist erst gegen 18 Uhr, da ist noch massig Zeit, eine Kirche zu finden), ja auch anders.
Ich möchte nicht direkt gestört sagen. Es gibt unterschiedliche Arten von gestört. Es gibt ‚hihi, ein bisschen zwanghaft‘-gestört und es gibt ‚hihi, ich heiße Ed Gein und bastel Möbel aus Menschenhaut‘-gestört. Aber wenn in einer der zahlreichen True-Crime-Dokus gesagt würde, dass der Killer von heute auf morgen von nun an jeden Tag in die Kirche ginge, würde der Psychiater in der nächsten Szene das sicherlich nicht als komplett normal bezeichnen.
Die Frage drängt sich also quasi auf: Ist ein radikaler Verhaltenswechsel ein Zeichen von starker, beneidenswerter Willenskraft – oder am Ende doch eher die Folge eines Frontallappenschadens und damit das mentale Hors d’œuvre eines Psychopathen? Die Antwort wird vermutlich in irgendeinem True-Crime-Podcast schlummern.
Ich überdenke also noch einmal meine Wortwahl. Übermenschlich könnte schließlich auch ein Dämon sein? Und Titanen, puh, eigentlich ebenfalls eher schwierig. Hat der Oberste von denen nicht versucht, all seine Kinder zu fressen? Vorbilder sehen für mich dann schon anders aus. So allgemein gesprochen sind Menschen, die das so ganz und gar nicht zwanghaft handhaben, vielleicht dann doch nicht so großartig …
Wie war ich eigentlich darauf gekommen? Ach ja.
Es ist Oktober. Schwieriger Monat für mich. Aus Gründen. Vor allem jedoch, weil es unfreiwillig ein Monat des Innehaltens ist. (Innehalten, Reflektieren, siehe oben.)
Innehalten an sich ist ja eine super Sache. Wenn einem beim Innehalten Dinge einfallen, die man durchaus ändern könnte oder sollte, noch superer. Wenn einem diese Dinge sehr, sehr, sehr schnell einfallen, weil sie schon die zehn Monate vorher wie in Windeln gepackte Steine auf einem Präsentierteller bräsig vor einem lagen (sorry, Kronos-Anspielung, dagegen bin ich machtlos), vielleicht nicht ganz so superer …
Weil die nebulöse Ahnung, dass der Grund, das man besagte Dinge in den zehn vergangenen Monaten nicht angepackt hat, obwohl doch so viele Montage, so viele Erste des Monats ja bereits zur Verfügung gestanden haben, auch im Oktober weiter bedrohlich über einem hängen wird wie die abgeschlagenen Klöten von Uranos (letzter Kronos-Witz, ich schwöre).
Es ist Oktober und ich sehe die Dinge, die ich ändern müsste. Mehr noch: Die Dinge, die ich schon längst hätte ändern müssen. Der Oktober, vor allem die erste Woche, ist damit nichts anderes als eine emotionale, unfreiwllige Rückschau. Fast mehr noch als in der Neujahrsnacht. Und es ist eine bittere Rückschau. Keine, die Mut und Willensstärke auslöst und den Frontallappen zum Glühen bringt.
Ich sehe Dinge, die nicht richtig laufen. Dinge, die ich nicht richtig mache. Dinge, die ich nicht geändert habe. Dinge, die ich bereuen werde, sollte ich sie nicht endlich zeitnah ändern.
Kurzum: Dinge, die ich wohl nie ändern werde?
Dinge. Das bin ich. Ich bin die Summe dieser Dinge.
Und ich brauche den nächsten Morgen, den nächsten Montag, den nächsten Ersten, weil ich mich an ihm festklammern muss. Weil er etwas beinhaltet, das ein Donnerstag um 16:37 Uhr nicht beinhaltet: Hoffnung. Hoffnung auf Änderung. Hoffnung auf mehr Mut und Willenstärke. Hoffnung auf ein Ich, das stärker sein wird als das Ich vom Donnerstag um 16:37 Uhr.
Ohne diese Hoffnung, ohne diesen Kalender, in den ich reinschreiben kann ‚Ab Morgen wird alles anders, ab morgen wird alles gut‘, wäre ich ein havariertes Schiff. Eines, dessen Besatzung nur durchhält, weil sie über Funk hören, dass am Montag die Rettung kommen wird. Weil sie übers Fernglas am Horizont die Werft schon sehen können. Weil sie wissen, dass selbst wenn heute so ziemlich alles scheiße ist und keiner von ihnen jetzt daran etwas ändern kann oder wird, das schon bald geschehen wird.
Ab Montag Morgen wird alles anders. Und wenn nicht an dem Montag, dann an dem Montag danach. Es wird. Weil es muss. Weil, solange die Hoffnung da ist, solange ja schwarz auf weiß im Kalender steht, dass nun sehr zeitnah alles gut werden wird, aus dem havarierten Schiff kein Wrack werden kann.