Du bist neu hier, oder?

“Okay, ich brauche eine Serie …” Der Satz kommt ganz von alleine. Ich denke ihn nicht mal. Nicht wirklich. Nicht bewusst. Irgendwas anderes denkt ihn, ich höre ihn lediglich. “Eine gute Doku. Die nicht … die auch nicht …” Ich scrolle, nein, mein Zeigefinger scrollt durch Netflix. “Alles schon gesehen, alles schon ein Dutzend Mal gesehen”, motzt mein Gehirn. “Nein, die passt nicht … die auch nicht …”

Warum genau brauchen wir das?” Ich versuche die Frage möglich beiläufig und keinesfalls vorwurfsvoll zu stellen. Ein verächtliches Schnauben ist die Antwort. “Das haben wir schon immer so gemacht”, folgt als Ergänzung. Wechsel auf die ARTE-Mediathek. “Nein. Nein. Die auch nicht. Haben die nichts über den Ersten Weltkrieg?”

“Wir suchen jetzt schon sicher fünfzehn Minuten”, versuche ich einzuwenden. “Wir suchen jetzt schon sicher fünfzehn Minuten!” äfft mein Gehirn mich nach. “Wir suchen ja auch nicht irgendwas, sondern wir suchen DIE RICHTIGE SENDUNG.” Die letzten drei Worte dehnt mein Gehirn unnötig lange, weil es offenbar der Ansicht ist, ich würde sonst die Notwendigkeit der Aktion nicht verstehen.

Wechsel zu YouTube. Suche: Doku Saudi Arabien Geschichte. “Kennen wir schon alle.” Suche: Doku Lybien Gaddafi. “Was ist das für ein unprofessioneller Dreck?” Suche: Unternehmen Barbarossa Paulus. “Hm. Nichts Neues, haben wir erst vor zwei Wochen alles gesehen.”

“Naja,” versuche ich erneut einzuwenden “ich vermute mal, bei dem Thema wird so schnell auch nichts Neues mehr kommen?” Das Gehirn stöhnt laut auf, aber bevor es mich beschimpfen und/oder zurechtweisen kann, flackert ein kleines Feuerwerk an Dopaminraketen auf: “Ishiwara Kanji: Der General, der Japan in den Zweiten Weltkrieg führte! DAS gucken wir, während wir die Überweisungen machen!”

“Wir haben fast ne halbe Stunde gebraucht, um eine fast anderthalbstündige Doku zu finden, um etwas zu machen, was vielleicht zwanzig Minuten dauert?”

“Du bist neu hier, oder?” fragt mein Gehirn und ich bin nicht sicher, wie ernstgemeint die Frage ist, denn hin und wieder ist mein Gehirn auch absichtlich einfach nur ein Riesenarschloch.

“Hör mir gut zu,” raunt es “hörst du mir zu? Gut. Wir funktionieren nicht anders. Es wäre zu simpel, wenn ich dir das Dopamin oder Noradrenalin einfach geben würde – so wie du es brauchst, um den Müll runterzubringen, die Wäsche aufzuhängen oder diese vier Überweisungen zu tätigen. Wir handhaben das hier anders. Du willst Hausarbeit machen? Willst einen Text schreiben? Willst die Unterlagen für die Steuererklärung sortieren? Willst recherchieren, welche Pneumologen es in Berlin gibt? Dann musst du ne verschissene Münze in die Jukebox werfen, denn dieses Schätzchen hier startet seinen Motor nicht einfach so. Und du kannst nicht einfach ein 1-Euro-Stück oder eine 1-Pfund-Münze reinstecken. Wir sind hier nicht auf dem Straßenstrich, wo jede Währung genommen wird – du musst erst einen Krügerrand finden, denn nur damit läuft diese Jukebox, Baby.”

“Bitte nenn mich nicht Baby.”

“Dann hör auf, wie eines rumzuflennen. Embrace dein ADHS und sei einfach froh, dass ich dir überhaupt eine Möglichkeit zeige, wie du irgendwas geschissen kriegst.”

“Du könntest mir auch einfach die notwendigen Neurotransmitter geben?”

“…”

“…”

“Willst du diese Überweisungen jetzt machen oder was?”

“Ja.”

“Dann starte diese verdammte Doku oder ich stelle die Serotonin-Produktion für die restliche Woche ein und sehe dabei zu, wie du wie ein Stück Obst, das man vor drei Wochen im Kühlschrank vergessen hast, langsam vor dich hinschrumpelst bis man nicht mal mehr erkennen kann, ob du früher mal ein Apfel oder ein Pfirsich gewesen bist.”

“Sir, yes, Sir.”

[Nur falls Sie sich fragen, was in einem neurodivergenten Kopf an einem durchschnittlichen Vormittag so vor sich geht. Falls Sie sich das noch nie gefragt haben, könnte der Text eventuell irritierend bis verstörend auf Sie gewirkt haben, aber das klären Sie dann bitte mit Ihrem eigenen Gehirn.]

Gruppentherapie olé olé

Vor etwa 13 Jahren war ich in einer Gruppentherapie. Ja, ich weiß, was Sie jetzt denken: Ich in einer Gruppentherapie – was für eine beschissene Idee war das denn bitte? Aber was versucht man nicht alles, wenn man permanent durchs Raster der Gesellschaft fällt und schlicht versuchen will, sich anzupassen ohne parallel dabei draufzugehen?

Teil der damaligen Therapie war auch Kunsttherapie. Ich habe bis heute nicht verstanden, was das genau sollte.

Natürlich ist kreatives Arbeiten gut und kann heilsam sein. Es kann Stress abbauen. Dabei helfen sich auszudrücken, wenn einem sonst die (richtigen) Worte fehlen. Daher: An sich eine top Sache.

Aber sieben Leute mit komplett unterschiedlicher Krankheitsgeschichte in einen Raum zu werfen und als Info mehr oder weniger schlicht mitzugeben “Hier sind 27-tausend Materialien, tobt Euch aus!” scheint mir als therapeutisches Konzept dann doch nicht besonders durchdacht?

Ich meine, wir wissen ja auch alle inzwischen, wie gut Tiertherapie helfen kann – aber wenn ich eine taktile Aversion gegen Fell/Haare habe oder Delfine (und/oder Wasser?) per se scheisse finde, dann ist das eben auch nicht für jeden die richtige Therapieform.

Ich kann mich nicht wie Congo der Schimpanse einfach vor eine Leinwand setzen und meine Gefühle auf die Leinwand fließen lassen. Das letzte, was mich entspannt, ist zwei Stunden mit sieben Menschen in einem Raum sitzen zu müssen, mit denen mich als einzige die gleiche Ärztin verbindet.

Ich zeichne oder male nicht einfach mal drauflos und schaue dann, was am Ende dabei rauskommt – und tue dabei so, als sei es mir egal, wenn das Resultat so hässlich wie die Nacht ist und der einzige Ort, an dem ich es aufbewahren möchte, auf dem Boden des Mülleimers ist.

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