Kennen Sie das, wenn jemand meint, er hätte kein Problem, weil er ja jederzeit damit aufhören könnte?
Bei mir ist es im Grunde bei manchen Sachen ähnlich. Der primäre Unterschied ist am Ende vermutlich, dass ich noch hinten anfügen würde: „Ich könnte jederzeit aufhören – aber ich will nicht.“
Streng genommen habe ich nämlich kein Problem. Denn permanent fernzusehen ist kein Problem. Es ist keine Sucht.
(Sagt man das überhaupt noch? Fernsehen? Vermutlich nicht. Es findet ja inzwischen zu 90% auf irgendwelchen Devices statt. In irgendwelchen Mediatheken. Und kaum noch auf so einem Fernseher mit linearen Fernsehporgramm. Aber ich finde, es gibt kein zufriedenstellendes Wort für diese Art Medienkonsum. Streamen ganz sicher nicht. Und netflixen geht ja auch nicht, weil sich das einfach nur falsch anfühlt, wenn ich Disney+ starte. Es gibt einfach kein gutes, neues Wort, also bleibe ich weiter bei Fernsehen.)
Also, ich habe kein Problem mit Fernsehen. Streng genommen schaue ich ja nicht mal wirklich. Es ist vielmehr ein durchaus notwendiges Hintergrund … gegurgel. Ich brauche es nebenher, während ich eigentlich was anderes mache. Ich brauche es einfach.
Aber – und ich kann das an dieser Stelle gar nicht ausreichend betonen – natürlich nicht auf die gleiche Weise wie andere Kokain brauchen. Oder Meth. Ich brauche es auf eine unproblematische, unsüchtige, gesundheitlich nicht gefährdende Weise.
Und nur angenommen, also rein theoretisch, man würde sagen, dass es ein Problem ist, dass von morgens bis abends bei mir Videos laufen, wären ja nicht die Serien, die Filme, die Dokus das Problem, sondern, dass der Konsum davon seit Netflix & Co. einfach so beschissen kompliziert geworden ist.
Natürlich ist es toll, was man jetzt alles sehen kann. Jederzeit. Formate aus jedem Land der Welt, in Sprachen, von denen man nicht mal wusste, dass sie existieren. Aber das Fernsehen damals war schon besser, da einfacher.
Erinnern Sie sich an damals? Nach dem Krieg. Wir hatten ja nichts. Nicht mal Kabel. (An dieser Stelle geben wir allen unter fünfundzwanzig die Zeit, ChatGPT zu fragen, was Kabel ist.)
Ich hatte nicht mal Kabel bis ich achtzehn war. Stattdessen empfing mein kleiner Röhrenfernseher, den ich mir mit Vierzehn gekauft hatte, ausschließlich – und aus mir auch nachträglich nicht nachvollziehbaren Gründen – VOX. Und dort lief immer das Gleiche. Serien aus den Siebzigern und Achtzigern. Und am nächsten Vormittag wurden die Folgen des letzten Nachmittag wiederholt. Das war bevor VOX mit CSI cool wurde und sich leisten konnte Serien wie Gilmore Girls einzukaufen.
Aber im Grunde war es egal, was lief, denn es war eben das Einzige, was lief und damit wurde einem die Entscheidung, ob man etwas anderes schauen möchte, komplett abgenommen. So habe ich meine komplette Schulzeit verbracht und auch meine Studienzeit – denn seien wir ehrlich: Selbst mit Kabelfernsehen waren die Möglichkeiten im Vergleich zu heute doch eingeschränkt. Ich könnte nicht mal ansatzweise erraten, wie oft ProSieben Friends oder Malcolm Mittendrin wiederholt haben oder Sat1 alle Star-Trek-Serien, die jemals gedreht wurden. Diese Sendungen waren der Soundtrack meines Studiums.
Und ja, ich gebe zu: Mit der Zeit wurde dann auch das Kabelfernsehen für mich schon zur Herausforderung. Wie lange man manchmal durch alle Kanäle zappen musste, bis man das richtige gefunden hatte.
DAS RICHTIGE. Denn: Wenn man Fernsehen nebenbei laufen lässt, kann man nicht irgendwas laufen lassen!
Einerseits darf es nicht zu schlecht, zu dumm, zu hohl sein – was zum Beispiel der Fall war, als diese ganzen Barbara Salesch-Sachen anfingen und plötzlich das gesamte Nachmittagsprogramm aus gefaketen Gerichtssendungen bestand.
Wenn die Sendung zu dumm ist, dann wird der Teil des Gehirns, der eigentlich nur passiv zuhört, aggressiv und dann kann sich das restliche Gehirn nicht auf die Sache konzentrieren, die es eigentlich machen soll. Für eine Klausur lernen. Das Zimmer streichen. Whatever.
Ist das Format jedoch zu gut, will sich das restliche Gehirn gar nicht erst auf diese Sache konzentrieren, sondern eben auf die Sendung. Die Herausforderung ist also, das richtige zu finden – und das wurde immer schwieriger, je mehr Angebote es gab.
Und ehe man sich versieht, schreiben wir das Jahr 2025: Ich habe fünf kostenpflichtige Streaminganbieter und von den Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen oder illegal auf YOUTube hochgeladenen Dokus will ich lieber gar nichts erst anfangen.
Letzte Woche habe ich 37 Minuten gebraucht, um eine Sendung zu finden, die geeignet ist, damit ich nebenbei das Bad putzen kann. Ich denke, es ist eindeutig: Nicht ich habe oder bin das Problem, sondern dieses groteske Überangebot. Wenn es wieder lineares Fernsehen gäbe und vielleicht nur zwei oder drei Sender, dann müsste ich nicht mehrfach jeden Tag überlegen, was ich als nächstes gucke.
Aber auch wenn ich kein Problem habe, mache ich es. Den Stecker ziehen. Metaphorisch.
Ich würde nämlich gerne nun die zweite Staffel von Hacks schauen – aber das ist eindeutig eine Sendung, die zu gut ist, um sie nur nebenher laufen zu lassen, während ich Überweisungen mache oder den Sofabezug abziehe und wasche.
Ich würde also genau jetzt wieder anfangen zu suchen, vermutlich nichts finden – einfach, weil ich schon alles gesehen habe, alles außer eben die zweite Staffel von Hacks – und am Ende würde ich wieder die Doku über John Wayne Gacy gucken, bei der ich mich jedesmal frage, was man wohl von mir denken würde, wenn man wüsste, wie oft ich sie schon gesehen habe, und was ich der Polizei sagen würde, wenn sie fragte, warum ich diese Doku jeden Monat circa siebzehn Mal sähe und sie würden mich dabei anschauen, als wüssten sie die Antwort bereits und ich würde versuchen zu erklären, dass es nicht so sei, wie es aussähe, obwohl ich schon vorher wüsste, dass sie mir nicht glauben würden und dann würden sie mich anschauen, als hätte ich seit meiner Pubertät an der Decke über meinem Bett Fanposter von Aileen Wuornos hängen. Gibt es Fanposter von Aileen Wuornos, würde ich vermutlich dann fragen. Und sie würden denken, ich fragte nur, weil ich spätestens jetzt unbedingt sowas an die Decke über mein Bett hängen möchte. Vermutlich würden sie kurz danach auf meinen YouTube-Verlauf zu sprechen kommen und wissen wollen, ob ich Nazi oder Kommunist sei, denn mein Verlauf mit den ganzen konsumierten Hitler- und Stalin-Dokus würden wiedersprüchliche Signale senden. Und dann würden Sie den Psychiater reinbitten und spätestens dann würde mir dämmern, dass ich vielleicht doch weniger hätte fernsehen sollen.
Wie auch immer.
16:44 Uhr – Ich starte mit meinem Entzug. Obwohl Entzug das falsche Wort ist, denn es impliziert ja, dass ich ein Problem habe. Ich habe aber keine Zeit, über ein besseres Wort nachzudenken, da ich mich frage, ob ich vor dem Entzug nicht doch die zweite Staffel Hacks hätte schauen sollen.
16:45 Uhr – Ich habe weiterhin kein Problem.
16: 47 Uhr – Schon drei Minuten. Ich laufe wie eine Hyäne, die in einem 5x5m großen Auslauf in Gefangenschaft lebt, ziel- und rastlos von einer Ecke der Wohnung in die nächste, aber kein Problem. Ich verbrenne Kalorien UND schaue kein fern. WIN WIN. Ha.
17:01 Uhr – Wäre es schon zu spät für ein Nachmittagsschläfchen? Einen Powernap? Oder zwei? Oder siebzehn? Bis dieses Gefühl, dass ich nicht weiß, was ich machen oder mit mir anfangen soll weg ist? Ich meine, das Gefühl geht doch weg, oder? ODER?
17:12 Uhr – Waren die Gedanken in meinem Kopf schon immer so laut oder kommt mir das nur so vor?
17:18 Uhr – Können andere Menschen hören, dass meine Gedanken so laut sind?
17:29 Uhr – Läuft super. Schon fast eine Dreiviertelstunde. Gar kein Problem. In fünf Minuten ist meine Flink-Lieferung da, in elf Minuten meine Pizzalieferung und die Getränkelieferung kommt auch vor acht. Alles kein Problem. Ich kann mich auch super ohne Fernsehen beschäftigen.
17:30 Uhr – Wenn ich jetzt gleich noch was bei IKEA bestelle, ist es vielleicht bis Samstag schon da!
17: 42 Uhr – Irgendwie fühlt es sich falsch an, die Pizza ohne Fernsehen zu essen. So als würde man Sushi ohne Stäbchen essen oder Nachos ohne Dip. Wäre es okay, wenn ich gerade was anmache? Die Doku zu den White-House-Farm-Morden? Nur kurz? Nein. Es geht auch ohne, auch wenn sich das seltsam anfühlt und falsch, oh mein Gott so falsch! Ich esse einfach schneller, dann ist dieser Moment um, einfach schneller kauen, schneller schlucken, dann denkst du nicht mehr darüber nach, wie verdammt falsch sich das hier anfühlt, wie du hier einfach sitzt und nur isst.
17:58 Uhr – Zählen Insta-Reels eigentlich auch? Wenn ich mein Vergangenheits-Ich fragen würde, würde sie vermutlich safe sagen, ja klar, die sind auch tabu, aber sie ist nicht da, nur das Jetzt-Ich ist da und sie stellt nur Fragen, sie ist für die Entscheidungen nicht zuständig. Aber ich kann spüren, wie das Vergangenheits-Ich mit bitterer Miene ins Jetzt herüberschaut. Keine Insta-Reels also.
18:01 Uhr – Obwohl Insta-Reels streng genommen nicht unter die gleiche Rubrik fallen, da ich per se gar nichts nebenbei machen kann, wenn ich Reels schaue. Komplett andere Kategorie also. KOMPLETT.
18:03 Uhr – Aber wenn ich jetzt das Handy nehmen und schaue, dann könnten wieder andere sagen, ich hätte ja sehr wohl ein Problem, obwohl ich das eindeutig nicht habe. Keine Reels.
18:09 Uhr – Die von Flink haben die M&Ms vergessen.
18:11 Uhr – Wenn ich jede Minute, in der ich nicht fernsehe, ein M&M esse, wie lange würde es dann dauern, bis die Tüte leer ist?
18:27 Uhr – Wie oft sollte man die Decke staubsaugen? Alexa, erinnere mich daran, die Decke zu saugen.
18:28 Uhr – Was haben die Neandertaler gemacht, bevor der Staubsauger erfunden wurde? Haben sie die Spinnenweben in der Höhle einfach hängen lassen? Oder hatten sie eine Art Staubwedel aus Säbelzahntigerschnurrbarthaaren oder Wollmamutschwanzhaaren? War es ihnen vielleicht einfach egal? Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen ihrem Aussterben und dem mangelnden Interesse für Hausputz? Ob es dazu eine Doku gibt?
18:31 Uhr – Meine Hände sind viel kleiner als ich dachte.
18:32 Uhr – War dieses Muttermal schon immer da? Ich muss endlich einen Dermatologen in Berlin finden und meinen jährlichen Hautkrebscheck machen.
18:37 Uhr – DER MA TO LO GE. Komisches Wort.
18:41 Uhr – Warum sind manche Popel trocken und andere feucht? Und ist das eine besser als das andere? Also gesundheitlich? Und wenn das eine besser ist als das andere, was kann ich unterstützend machen, damit nur noch das eine, also das bessere entsteht? Mehr Trinken? Weniger Trinken? Nasenspülungen? Nasenspray mit Meersalz?
18:43 Uhr – Aus welchem Meer kommt eigentliche Meersalz-Nasenspray? Muss das aus einem bestimmten Meer kommen, damit es sich so nennen darf? So wie Dubaischokolade? Oder ist es nicht so streng reglementiert und kann auch Moselwasser mit Speisesalz sein?
18:49 Uhr – DAS MUTTERMAL WAR SCHON IMMER DA. Jetzt erinnere ich mich wieder.
18:51 Uhr – Aber die zwei Haare, die aus der Mitte des Muttermals so herauswachsen, als wäre sie eineiige Zwillinge, die sind neu.
18:55 Uhr – 1,4 cm ist wirklich lang für ein Muttermalhaar.
19:02 Uhr – Muuuutteeeermaaaaalhaaar. So viele komische Wörter heute. Wieso fällt mir das sonst nie auf?
19:09 Uhr – Wenn ich jetzt gleich sehr ausführlich Zähne putzen würde, ist es vermutlich fast halb acht, wenn ich dann ins Bett ginge. Ist das zu früh? Nein. Ich bin Anfang Vierzig. Da kommt man eben so langsam in dieses Alter, in dem man früh ins Bett geht. Ich würde ja nicht ins Bett gehen, weil ich nicht fernsehen kann und nichts mit mir anzufangen weiß. Es ist okay, so früh ins Bett zu gehen. Meine Großeltern sind immer früh ins Bett gegangen. Und wenn ich nur genug von dem Melatoninspray nehme, schlafe ich vielleicht auch vor neun ein.
19:31 Uhr – Es ist wirklich noch sehr hell.
19:44 Uhr – Drei Stunden geschafft. Ich weiß gar nicht, wo das Problem ist, wie gesagt: ich habe ganz sicher keines. Okay, ich habe in den drei Stunden nicht sonderlich viel geschhaft und wirklich sehr viel ans Fernsehen gedacht, aber dieses destruktive Grübeln ist einfach nicht meins, deswegen fange ich jetzt gar nicht damit an.
19:43 Uhr – Kann man zu viel Melatonin nehmen? Ich würde es ja googeln, aber ich fürchte, die Antworten würden mir nicht gefallen. Und es gibt eine nicht zu unterschätzende Gefahr, dass ich auf Insta gehe, wenn ich das Handy erst einmal in der Hand habe.
19:57 Uhr – Vielleicht habe ich doch ein Problem.
20:01 Uhr – Aber nur ein klitzekleines.