TRIGGERWARNUNG: Tod.
Sie schreit. Das ist das Einzige, was sie noch tut. Schreien. Ihr abgemagerter Körper hebt sich und mit der letzten Kraft, der noch in ihr zu wohnen scheint, schreit sie. Es ist kein eindeutiges wütendes Schreien. Oder eines aus Schmerz. Oder Trauer. Es ist nur das: Ein Schrei.
So wie bei einem Neugeborenen, das überwältigt ist von alldem, was sein Körper gerade empfindet. Wut, hier draußen sein zu müssen, weil seien wir ehrlich, hier draußen ist es kalt und grausam. Schmerz, weil die Mutter nicht die Einzige war, die diese Geburt gerade mitgemacht hat. Trauer, weil die Phase des Behütetseins endgültig vorbei ist.
Ihr Körper sackt in sich zusammen, dieser dünne Körper, der zwar nie stark im optischen Sinne war, sondern schon immer zierlich, aber der sie zumindest um die Welt getragen hat. Der sie durch ein selbstbestimmtes Leben geführt hat.
Und der nun nicht mehr kann und nicht mehr mag und nur noch eines macht, seit Tagen schon: Zu Schreien. Er verweigert das Essen, das Trinken, die Medikamente, die Versuche ihn zu beruhigen. Er hat eine Mauer aufgebaut, zwischen sich und der Welt, es gibt nur noch ihn und dann ist da nichts mehr. Die einzige Verbindung, die es zu geben scheint, ist der Schrei.
Sie liegt im Bett, ihr Körper nur ein Schatten, eine schlecht und makaber gezeichnete Karikatur ihres eigentlichen, früheren Selbst. Immer wieder schläft der Körper ein, dämmert weg, ermüdet von alldem, nicht nur dem Schreien, sondern dem Leben selbst. Wenn man das hier noch Leben nennen mag. Dann atmet sie ein, einmal, zweimal und man weiß, es geht wieder los, wie bei einem Sportler, der auf ein imaginäres Signal wartet, einen Startschuss, sammelt er noch einmal alle Energie, die irgendwo in diesem Körper noch herumliegt, jede Zelle, die noch da ist, wird mobilisiert, damit der Brustkorb sich erneut heben und mit genügend Luft füllen kann, um weiter zu schreien.
Der Schrei richtet sich an niemanden, er erfüllt das Zimmer, ergießt sich durch die Tür und die Flure, wie ein akustischer Tsunami bahnt er sich seinen Weg, bis er irgendwo versandet. Jede*r, der mehr als einmal in einem Altenheim war, einem Hospiz, einer Palliativstation, einer forensischen Psychiatrie, kennt diese Art von Schrei. Es ist ein Ton, ein Geräusch, den man nie wieder vergisst, der sich unter die Haut, tief ins Mark gräbt.
Als versuche etwas in ihr irgendwo anders bleiben zu können, dass es das nicht sein kann, dass nicht gewesen sein kann, hier in diesem Bett, mit diesem Körper, der eigentlich nicht mehr kann. Sie sind aneinander gekettet, sie und dieser Körper, ein Bündnis, das keiner von ihnen geschlossen hat und das dennoch da ist und nun seinem Ende entgegen schreit.
Wie schnell dieses Ende nun kommen würde, weiß die Ärztin nicht. Nun, da die Allianz aus Körper und Geist offenbar beschlossen habt, weder zu essen noch zu trinken. Sie lässt es bewusst offen, nennt weder eine Anzahl von Tagen oder Wochen, sagt lediglich, dass es manchmal ganz schnell gehe und manchmal nicht.
Der Körper hört sie nicht mehr. Er hört schon lange nicht mehr zu. Er hat keine Energie übrig, um irgendwem zuzuhören. Er braucht sie für den Schlussakt.
Erst als das Morphin durch die Venen fließt, sich ausbreitet und über den Körper legt, wie ein umarmender Mantel, hört das Schreien auf. Gegen Wut und Trauer im Inneren hilft das Morphin nicht, aber gegen Schmerz. Das ist das Einzige, was man noch machen kann, das Einzige, um ihr eine Hand zu reichen von dieser Welt durch diese Mauer, die sie trennt, hindurch.
Der Körper hebt und senkt sich weiterhin, aber nicht mehr um zu Schreien. Und dann hebt er sich nicht mehr. Und dort, wo vorher das Schreien war ist nur noch eines. Ohrenbetäubende Stille.
Oh, das hat mich gerade hart getroffen. Meine Mutter 89 liegt seit zwei Wochen bei uns zu Hause im Bett und stirbt. Das Schreien fehlt. Zum Glück denke ich jetzt. Sie hat einfach aufgehört anwesend zu sein und irgendwann konnte sie nicht mehr wirklich schlucken. Und jetzt liegt sie da, mit einem guten, starken Herzen und atmet. Ich gehe jede Stunde gucken, aber sie atmet. Gibt nicht auf. Hin und wieder gibt es seltsame Geräusche und Töne. Alles mit Morphin abgedeckt. Meine Grenze ist schon überschritten und trotzdem gehe ich jede Stunde schauen. Ich fühle mich schuldig, weil ich es so belastend finde.
Liebe Frau Haessy, das ist der gefühlvollste Nachruf, den ich je las.
Es tut mir ganz aufrichtig leid – für das, was sie durchstehen musste, und für die, die noch da sind.
Sehr heftiger, sehr guter Text über ein leider viel zu oft ausgeblendetes Thema.
Markerschütternd. Mein herzliches Beileid.